„Aus Ängsten aussteigen, mutig nach vorn gehen“
Die evangelische Kirche feiert 500 Jahre Reformation – und Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow feiert mit. Weil sein Glaube stark durch Martin Luther geprägt ist – und er sich auch als Politiker seinem Gewissen verpflichtet sieht.
Warum sind Sie Botschafter für das Reformationsjubiläum?
Ich bin seit 27 Jahren in Thüringen unterwegs. An jeder Ecke finden Sie Spuren der Reformation. Als sozialisierter Protestant habe ich eine große Freude daran, tief in die Geschichte einzutreten und mich damit auseinanderzusetzen. Das Reformationsjahr ist darüber hinaus ein großes Jahr für die Bundesrepublik und auch für Thüringen. Ich bringe mich aus großer innerer Überzeugung als Botschafter ein.
Was bedeutet Reformation für Sie?
Für mich persönlich bedeutet Reformation, dass ich eine unmittelbare Beziehung zu meinem Gott habe. Ich brauche niemanden, der mir meinen Gott erklärt oder sagt, welche Rituale ich praktizieren muss, um zu ihm zu gelangen. Dass ich meinen Glauben so leben kann, hat mit der Reformation zu tun. Martin Luther hat damals die Beziehung des Menschen zu Gott neu geordnet – ohne eine Kirche dazwischen, die permanent Angst verbreitet. Aus Ängsten auszusteigen und mutig nach vorn zu gehen, ist für mich ein wichtiger Impuls der Reformation. Zu sagen: Ich leide unter der Angst, aber ich will die Angst nicht mehr. Das brauchen wir heute dringender denn je. Angst zu überwinden, heißt, stark zu werden. So wie vor der Wende in Leipzig, als Menschen aus den Kirchen auf die Straßen gingen und protestierten. Das war eine unglaubliche Geschichte.
Welche Rolle spielt der Glaube in ihrem politischen Leben?
Ich bin froh, dass meine Partei seit Jahren bei jedem Kirchentag aktiv dabei ist und auch beim Katholikentag ein gern gesehener Gast ist. Ich bin als evangelischer Christ so etwas wie der Kieselstein im Schuh meiner Partei. Da reibt sich der eine oder andere, aber das will ich auch.
Wie wichtig ist es, sich als Politiker zu hinterfragen?
Für mich bedeutet Reformation, die Geschichte und auch sich selbst, die eigene Verantwortung, immer wieder neu zu wägen und zu prüfen. Nicht einfach zu sagen: Ich habe der Weisheit letzten Schluss und vollziehe sie durch die Macht meines Apparats. Immer dann, wenn das in Deutschland passiert ist, ging es schief. Nur die Klugheit von vielen gemeinsam bringt die Balance.
Haben Sie ein persönliches Erlebnis mit dem Satz „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“?
Ich bin aus Gewissensgründen vor einiger Zeit nicht zu einer Ministerpräsidenten-Runde gefahren. Sie wollte den Beschluss fassen, die Abschiebung aller abgelehnten Asylbewerber zu beschleunigen. Doch darunter sind auch die sogenannten Altfälle. Das sind etwa 500.000 Menschen, die trotz eines abgelehnten Asylantrags seit Jahren bei uns leben, deren Kinder hier geboren sind. Sie gilt es in Deutschland zu integrieren. Ich bin gewillt, die Gesetze der Bundesrepublik Deutschland einzuhalten. Ich weiß, was es bedeutet, einen Amtseid auf unsere Gesetze und unsere Verfassung geleistet zu haben. Aber ich bin nicht gewillt, an Formulierungen mitzuwirken, die zur Abschiebung von Familien führen, deren Verfahren seit Jahren in bürokratischen Schleifen hängen. Auch für die Situation dieser Familien fühle ich mich verantwortlich.
Welches ist Ihr Lieblings-Spruch von Luther?
„Wenn du ein Kind siehst, hast du Gott auf frischer Tat ertappt“ – der gefällt mir sehr gut. Das Kind ist unsere Zukunft. Über das Kind lässt sich das Göttliche sehen: das Spielerische, das Suchende, das Behütende. Und den Lebensweg, auf dem wir dem Kind helfen zu gehen. Das ist ein großartiges Bild.
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